Warum ich während meiner Reise durch Xinjiang keine Umerziehungslager gesehen habe. Und warum ich trotzdem sicher bin, dass es sie gibt – ein Rückblick zum Tag der Menschenrechte.
Während meines Aufenthalts in China habe ich nie etwas Kritisches über das Reich der Mitte geschrieben. Und das nicht nur, weil ich überwältigt war vom technischen Fortschritt in den Städten, von der Gastfreundschaft der Menschen und der Fülle an Kultur und Geschichte. Nein, ich war feige und wollte keine Probleme.
Feigheit war auch ein Grund, warum ich beinahe die ganze Provinz Xinjiang mit dem Zug bewältigt habe. Sie ist seit Veröffentlichung der China Cables im Fokus der internationalen Presse. Und ich hoffe für uns alle, dass es nicht bei einem Blätterrauschen bleibt.
Das was in China passiert, tangiert nicht nur die Uiguren. China wird künftig mehr zu sagen haben auf dieser Welt – und wer seine persönliche Freiheit und die Menschenrechte liebt, sollte sie verteidigen, solange er in einem Land lebt, in dem er oder sie das noch ungestraft tun darf.
Reisen mit dem Rad in Xinjiang
Für Radreisende ist die Provinz Xinjiang nicht per se gefährlich, sondern bloss ziemlich mühsam.In der Szene erzählt man sich, dass es im Nordwesten von China unmöglich sei, an Tankstellen Benzin für den Kocher zu erhalten. Tanken kann nur, wer mit dem Auto oder dem Motorrad vorfährt und sich ausweist. Schliesslich könnte man das Benzin für einen Brandanschlag missbrauchen. Campen ist verboten und wer dabei erwischt wird, wird zum nächsten Hotel eskortiert. Auf gewissen Strassenabschnitten wird man aus Prinzip in den Bus gesetzt. Und dann sind da noch die Polizeistationen: Im Schnitt soll es alle 50 Kilometer einen solchen Checkpoint geben. Dort muss man sich ausweisen und zuweilen stundenlang warten, bis man die Papiere zurückerhält.
Ach ja, und dann ist da noch die Überwachungs-App, welche die Behörden den Reisenden beim Eintritt auf das Handy installieren. So wunderte sich eine Dänin, die sich von Einheimischen zum Übernachten einladen liess, warum nach zwei Stunden in deren Wohnzimmer, plötzlich die Polizei auftauchte und ihr sagte, sie könnte nicht bleiben. Sie sei bloss ins Hotel gesteckt wurden und habe gehofft, dass ihre Gastgeber ebenso glimpflich davongekommen seien.
Radreisen noch ohne Aufpasser möglich
Wer mit dem Auto oder dem Motorrad durch China reist, bekommt noch heute einen Aufpasser zur Seite gestellt. Ohne einen solchen «Reiseleiter» kommt man nicht durchs Land. Für Radfahrer gilt diese Regel zum Glück nicht, wahrscheinlich weil sie als harmlose Spinner betrachten werden.
Das sind wir ja auch. In meinem Fall befürchtete ich jedoch, dass man mir mit einer einfachen Internet-Recherche auf die Schliche kommen könnte. Es hätte sehr ungemütlich werden können, wenn die Beamten für den öffentlichen Frieden herausgefunden hätten, dass ich die vergangenen 16 Jahre meine Brötchen als Journalistin verdient habe. Zwar war ich in China ohne Auftrag unterwegs, aber damit auch ohne Schutz.
Campen im Abwasserschacht
Ich wollte die Provinz möglichst unauffällig hinter mich bringen, bin mit dem Zug eingereist und mehr oder weniger direkt nach Kaschgar gefahren. Der Flyer reiste dabei nicht mit mir, sondern mit Kurier. Dies gab mir die Möglichkeit mein Schweizer Taschenmesser im Fahrrad zu verstecken. Ansonsten wäre es mir abgenommen werden. Denn auch mit Messern kann man einen Terroranschlag verüben.
Von der nordwestlichsten Stadt Chinas bis an die Grenze von Tadschikistan benötigte ich noch zwei E-Bike-Tage. Einmal campte ich wild, vergewisserte mich dabei aber, dass mein Abzweigen von der Strasse von niemandem beobachtet wurde. Für die zweite Nacht quartierte ich mich in einem Hotel am Grenzübergang ein. Andere Radreisende berichten, dass das beste Schlafversteck in Xinjiang die Abwasserrinnen unter den Strassen seien. Sie bleiben je nach Jahreszeit garantiert trocken und dank Ohropax und genügend Kilometern in den Beinen schlafe man dort gar nicht so schlecht.
Verhör am Grenzübergang
Ungemütlich wurde es für mich erst bei der Ausreise. Ich musste mein Handy samt Passwort abgeben. Bevor sich die Tür schloss, konnte ich einen Blick in den Nebenraum werfen, wo mein Telefon von den Beamten an den Computer angeschlossen wurde.
Ich befürchtete, dass sich meine Eindrücke von Kaschgar in meinen Fotos widerspiegeln könnten. Drei Tage hatte ich in der Oasenstadt verbracht und fand einiges dort ziemlich komisch. Etwa dass jedes Messer auf dem Food-Markt mit einer Stahlkette gesichert ist. Dass jede Schule mit Stacheldraht und oder hohen Mauern umzäunt ist und alle Eintretenden einen Metalldetektor passieren müssen. Dazu die vielen Beamten in Kampfausrüstung.
Zwischen Hochsicherheitsgefängnis und Heimatmuseum
Die Altstadt von Kaschgar bestand bis vor wenigen Jahren noch aus ärmlichen Lehmbauten. Diese wurden allesamt abgerissen und durch pseudoorientalische Strukturen ersetzt. Dazu Kameras überall. All das erzeugt eine eigenartige Stimmung, irgendwo zwischen Hochsicherheitsgefängnis, Disneyland, Heimatmuseum und Trueman Show.
Während im Nebenzimmer mein Handy durchsucht wurde, verhörte man mich über meinen Aufenthalt in China. Das ging soweit, dass ich sogar den Namen der Sprachschule in Shanghai nennen musste und in der Folge dort angerufen wurde. Da ich extrem schlecht im Lügen bin, war ich super froh, dass ich früher als Lehrerin gearbeitet habe und darum immer bei der Wahrheit blieb, als man mich nach meinem Beruf fragte.
Für mich steht fest: Wer seine Bürger und Gäste auf solche Art und Weise überwachen muss, hat garantiert etwas zu verbergen. Ich bin mir unschlüssig, ob ich von Reisen in die Provinz Xinjiang abraten soll. Das Geld das in den Tourismus fliesst, stützt die herrschende Ordnung. Andererseits sehen Besucher eben auch, wie paranoid dieser Staat ist – und die Uiguren gehen vielleicht nicht ganz vergessen.
Vielen Dank für Deinen tollen Bericht. Es ist schon merkwürdig sich vorzustellen so direkt überwacht zu werden. Ich wünsche Dir weiterhin gute Reise und freue mich auf den nächsten Bericht.
Viele Grüsse aus dem Wallis, Beate
Danke für diese Einblicke, bei denen einem aber Angst und bang wird. Der Spruch „wehret den Anfängen“ erhält durch solche Veröffentlichungen zunehmend an dramatik und Aktualität. Wenn alle Schafe zusammenhalten hat der Schäfer keine Chance. Eigentlich. Ride on. Lg Udo
Gut, dass Du diesen Nachtrag zu Deiner Reise an diesem Tag der Menschenrechte veröffentlicht.
Je mehr ich über diesen Ausbau der Missachtung der Menschenrechte, der zunehmenden Überwachungsdiktatur und Gehirnwäsche eines ganzen Volkes erfahre, desto betroffener und schließlich wütender werde ich.
Auch auf mich, all das Schweigen unserer Politiker und Wirtschaftsleute hinzunehmen und brav weiter Produkte aus einem Land der Diktatur zu konsumieren .
Gerade habe ich 3 Blutdruckmessgeräte für meine Praxis bestellt. Wo kommen sie her ? China.
Können wir durch unsere Kaufentscheidungen die Politik ändern?
Ich werde mir die Produktionsländer vor einem Kauf demnächst genauer anschauen und konsequenterweise auch Waren aus Diktaturen zurückschicken .
Viele Grüße
Dr.T.Schwarz
Ob man mit Kaufentscheiden die Politik ändern kann, weiss ich auch nicht. Aber immerhin bleibt man so nicht ganz tatenlos. Und was für mich ganz klar ist: Wir müssen unseren Politikern auf die Finger schauen. Gerade in der Schweiz, die sich rühmt als erstes europäisches Land ein Freihandelsabkommen mit China geschlossen zu haben.
Die Situation in Xinjiang stimmt mich immer mehr trauriger. Als ich dort durch radelte – also ein Jahr vor Dir – war es noch ein bisschen einfacher. Oder mit meinem Gefährt wäre es wohl nicht einfach gewesen, dies einfach in einen Bus zu verfrachten. Wer weiss? Die penetrante Propaganda und Überwachung kann ich aber nur bestätigen. Bei jeder Ein- und Ausfahrt in einen Ort gibt es eine Polizeikontrolle, wo der Pass gezeigt werden musste. Ich bekam den nach mehreren Minuten aber wieder zurück, von 5 bis 20 Minuten. Auch hatte ich von einem grimmigen Offizier, der barsch seinem Untergebenen einen Befehl erteilte und dieser davon wieselte, alles Unheil erwartet. Der Soldat kam aber mit einer Flasche Wasser zurück, die mir der Offizier überreichte. Tankstellen sind hermetisch abgeriegelt und ich durfte als Radler nicht rein – auch nicht, um mir eine Flasche Wasser zu kaufen, oder vielleicht noch was zu knabbern im Kiosk. Dafür füllten sie mir die Flasche auf und händigten sie wieder über den Zaun zurück. Ich will nicht sagen, dass ich keine Probleme mit der Polizei hatte, es war nervenaufreibend, aber ich war Gast im Land und musste mich anpassen, ob es mir passt oder nicht. Die Polizeikontrollen habe ich als willkommene Pause angeschaut, mir viel Zeit genommen und versucht mit den Leuten zu plaudern. Ich versuchte die Menschen hinter den Uniformen zu sehen, nicht die Position, die sie innehaben. Vielleicht lag es auch an meiner Unverfrorenheit und mit meinem Gefährt, das sie etwas überforderte, dass ich einigermassen schnell durch die Kontrollen kam. Doch habe ich von Freunden gehört, dass es immer strenger wird mit den Kontrollen. Ich hatte damals noch kein Smartphone – nur ein Flipphone zum Telefonieren und SMSen – also keine Chance für eine Spionageapp zu installieren. Mein Laptop und Kameras wurden auch nicht durchsucht. Doch die Städte waren schon Totalüberwacht. Jeder Shop, Hotel, Busstation und öffentliches Gebäude hat einen Metalldedektor, Sicherheitsangestellte und Kameras. Sogar Kinder werden beim Besteigen vom Bus durchgecheckt. Eine Wasserflasche darf nicht mit dem Bus befördert werden. Du hast Deine Beobachtungen so beschrieben, wie ich es auch schon erlebt habe und ich finde es auch wichtig, dass man auf Menschenrechtsverletzungen hinweist, solange wir freie Meinungsäusserungen haben und das auch ausdrücken können.
Danke David für die Schilderungen deiner Erfahrung. Und ja, das stimmt: Wenn immer ich mit der Polizei zu tun hatte, wurde ich sehr zuvorkommen behandelt. In der Provinz Gansu half mir ein Beamter sogar ein lizenziertes Hotel zu finden. Das war an dem Tag, an dem ich meinen Flyer per Kurier Richtung Kashgar aufgegeben hatte. Ohne Velo war die Suche nach einem Hotel echt schwierig und mühsam – zumal ich noch zwei Velotaschen schleppte. Letztlich wurde ich im Polizeiauto direkt vors Hotel gefahren.
Danke für deinen ausführlichen Bericht! Ich reise seit mehr als 30 Jahren regelmäßig nach China und möchte Dich in einigen Punkten ergänzen: Dass die örtliche Polizei in einem kleinen Ort in Südchina von meiner Anwesenheit in einer kleinen Pension erfuhr und mich lieber in einem Hotel unterbringen wollte, ist mir schon 1993 ganz ohne Handy und App passiert. Ich konnte mich alleerdings durchsetzen und musste nicht umziehen.
Bei Xinjiang , das ich schon zweimal bereist habe, muss man auch bedenken, dass es dort in den letzten Jahren ziemlich viele Anschläge durch Uighuren mit mehreren Hundert Toten gegeben hat. Die Chinesen sind, nicht nur in Xinjiang, ziemliche Sicherheitsfanatiker. Taschenmesser sind in vielen Staaten der Erde nicht erlaubt, auch Schweizer Messer nicht. Mir wurde mal eines bei der Security am Frankfurter Flughafen abgenommen. Vom Wildzelten kann ich in China nur abraten. Wie in allen Ländern sollte man sich seiner Rolle als Gast bewusst sein und sich an die Regeln halten. Wildcampen ist nicht nur in China nicht erlaubt.
Im Gegensatz zu manchen westlichen Ländern (siehe uSA) entwickelt sich China immer mehr zu einem offenen Land, in dem die Menschenrechte gemäß UN Menschenrechtskonvention immer deutlicher geachtet werden.
Beste Grüße
Ulrike
Stimmt: Wildcampen ist auch in der Schweiz offiziell nicht erlaubt. Und mit Messer in den Flieger steigen ist überall ein No-Go. Aber hierzulande werden die Gäste nicht überwacht: Wer ein einsames Plätzchen sucht oder bei den Anwohner fragt, kann sein Zelt unbehelligt aufstellen. Und nur weil sich die USA daneben verhalten, sollte man nicht lascher werden mit den Menschenrechten. Es ist extrem wichtig, dass wir in einer Zeit, in der totalitäre Systeme wirtschaftlich erfolgreich sind und damit ihre Werthaltungen plötzlich salonfähig werden, standhaft bleiben. DAS WAS IN TIBET UND XINJIANG PASSIERT IST NICHT OKAY.
Und bitte noch eine Quelle angeben für die Aussage «in dem die Menschenrechte gemäss UN Menschenrechtskonvention immer deutlicher geachtet werden». Ich habe mit den Stichworten «UN Menschenrechtskonvention China Menschenrechte» auf der ersten Google-Seite diese doch recht seriöse und unabhängige Quelle gefunden, die da was ganz anderes erzählt: https://www.nzz.ch/international/um-die-menschenrechte-steht-es-in-china-bestens-sagt-china-ld.1411184