Selbst wenn man sich für eine aufgeklärte und tolerante Weltbürgerin hält: Frau hat ihre Vorurteile. Etwa dass eine allein reisende Westlerin, die in der Türkei auf dem Velo daherkommt, gefährlich lebt. Und klar, es sind ja auch nicht nur Vorurteile: Fahrradfahrende Frauen sind in der Türkei rar – und jene, die sich aufs Velo wagen, kämpfen für ihre Akzeptanz.
Ich bin fünf Tage allein entlang der Küste vom Schwarzen Meer geradelt. Eine Erfahrung, die ich nicht würde missen wollen – und das nicht nur, weil dieser Abschnitt mit einer ruhigen Küstenstrasse und mit wunderschönen Ausblicken ein Traum für jeden Radfahrer ist.
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Eigentlich wollte mich Fotograf Martin Bichsel durch die Türkei begleiten. Nach drei Etappen wurde er mit einer Magen-Darm-Geschichte krank und fühlte sich so geschwächt, dass er sich den höhenmeterreichen Abschnitt zwischen Bartin und Sinop nicht zutraute. Also machte ich mich mit einem leicht mulmigen Gefühl alleine auf die rund 350 Kilometer lange Strecke.
Allein unterwegs, aber nie einsam
Gleich beim ersten längeren Stopp nach 55 Kilometern winken mich zwei Frauen zu sich, die am Strassenrand Gözleme, frische gebackene Brotfladen, verkaufen: Özlem und Derya. Ich trinke Tee mit ihnen und wir unterhalten uns via Google Translator. Sie staunen, dass mein Verlobter mich alleine durch die Welt reisen lässt. Ich bin fasziniert davon, wie sie mich als Fremde vorbehaltslos in ihrer Runde aufnehmen. Als es allmählich kühler wird, will ich eigentlich weiter. Aber sie überreden mich zu bleiben, laden mich zum Abendessen ein und quartieren mich Derya ein, die Witwe ist und alleine lebt. Und was ich auch versuche: Eine Chance, mich zu revanchieren, lassen sie mir nicht.
Der folgende Tag verläuft nicht weniger wundersam. An einem Brunnen will eine Familie unbedingt Selfies mit mir machen, allen voran die Grossmutter. Ich fühle mich als richtige Attraktion. Bei einem anderen Stopp schenkt mir ein Mädchen eine Tüte M&Ms. Und überall werde ich zum Tee eingeladen, auch von Männern – einfach nur zum Plaudern.
Ein Foto mit der Exotin aus dem Ausland
Nach all diesen schönen Begegnungen fühle ich mich sicher und zuversichtlich als ich am Abend kurz vor Sonnenuntergang in einer Bucht ins Teehaus trete und mich nach einem Hotel erkundige. Doch kaum bin ich über der Schwelle, muss ich feststellen, dass da nur Männer sitzen.
Schaut man in die Restaurants, sieht man dort tatsächlich meist nur Männer. Sie trinken Tee und spielen Domino. Dies vermittelte mir als Aussenstehende das Gefühl, dass diese Gesellschaft durch und durch männlich ist. Dass die Frauen gar nicht existieren oder gar zu Hause versteckt sind. Dem ist aber gar nicht so.
All diese Männer, die da sitzen und spielen, haben eine Mutter, Schwester, Ehefrau und oder Tochter. So auch der verschwitzte und nicht gerade vertrauenswürdig wirkende Mann mit Dreitagebart, der im Teehaus auf mich zukommt, als ich gerade wieder rechtsumkehrt machen will. Er meint: «Otel, Doğanyurt, 30 kilometre», sieht mein betretenes Gesicht und fragt, welche Sprache ich denn spräche und schon wird unter den Gästen ein Rentner rekrutiert, der in Deutschland gelebt hat und als Übersetzer zur Verfügung steht.
Im Schosse der Familie
Der alte Herr meint, mir würde wahrscheinlich schon nichts passieren, wenn ich am Strand campieren würde, aber die Schwiegermutter von Sefer, dem Dreitagebärtigen, hätte ein grosses Haus und ein Bett für mich frei. Wenige Minuten später bin ich in der Obhut von zwei Schwestern, in meinem Alter, eine davon ist Sefers Frau. Ich verbringe den Abend im Schosse der Familie, werde von der Grossmutter abgeknutscht und darf die Fotos auf den Handys der Frauen bewundern, auf denen sie zum Teil im Bikini posieren. Auf meine erstaunte Frage, ob das denn überhaupt erlaubt sei, klären sie mich auf, dass die Fotos in von Männern abgetrennten Bereichen entstanden sind. Am folgenden Morgen darf ich erst nach einem reichhaltigen Frühstück los, erhalte als Wegzerrung einen Sack voll Nüsse – und bis heute erkundigen sich Sefer und Yasmin täglich, wo ich denn stecke und ob es mir gut gehe.
Inzwischen hat sich Martin erholt, und wir werden ab Sinop wieder gemeinsam weiterfahren. Ich bin aber unterdessen so entspannt, dass ich mich von fremden Männern zum Tee abschleppen lasse und sogar mit dem Gedanken spiele, den ersten Abschnitt im Iran alleine zu bewältigen. Denn wer weiss: Vielleicht habe ich von diesem Land eine ähnlich falsche Vorstellung, wie ich sie von der Türkei hatte.
Super Erlebnisse, Andrea, weiter so. Ich freue mich immer über deine Bericht.
Herzlich – angela
Toll, Andrea, ich habe mal wieder Gänsehaut beim Lesen. Habe gerade noch zu meinem Mann gesagt, dass das, was du über die Türkei schreibst, dem entspricht, was wir an tollen Begegnungen mit den Iranern erlebten. Also, freue dich auf Iran, du wirst es lieben. Und die Iraner dich. So viele gute Menschen außerhalb der Grenzen unserer Heimatländer, so viel Gastfreundschaft. Das ist Balsam auf meine Seele in diesen Zeiten.
Spannend deine Reiseberichte zu lesen. Am liebsten würde ich gleich auch losfahren. Bin selber am überlegen, ob ich mit E-Bike oder normalem Bike planen soll. Wie machst du das, wenn du am Ziel angelangt bist? Ich habe gelesen, dass keine Fluggesellschaft E – Bikes mitnimmt? Auf was muss ich achten, wenn ich mit E- Bike so eine lange Tour plane?Würde mich freuen auf eine kurze Antwort.
Weiterhin viel Spass und solche wunderbaren Begegnungen.
Das mit dem Fliegen stimmt. Wahrscheinlich lasse ich die Akkus in China zurück. Sie gelten wegen Entzündungspotential als Gefahrengut. Das Bike werde ich voraussichtlich wie ein normales Fahrrad verpacken und darauf hoffen, dass da niemand auf die Idee kommt, dass es trotzdem noch gefährlich sein könnte. Abgeklärt habe ich das aber noch nicht. Für einen kürzeren Urlaub würde ich das vorgängig sicher tun – und vielleicht von Anfang an mit einem Spediteur schauen.
Vielleicht wäre ja eine Option, die Akkus (Fahrrad) per Schiff nach Hause zu senden?
Hallo Andrea,
ist wohl eine schöne Erfahrung in der Fremde von Frauen und Männern herzlich begrüßt zu werden.
Die Seidenstraße ist nicht nur eine Handelsstraße, sie ist auch ein Weg durch die Tulpenländer vom Mittelmeere, Türkei, Iran, Kasachstan, Zentralasien, Kaukasusraum bis Nord-West China Xinjiang.
Entlang der Schwarzmeer Küste ist weltweit der größte Haselnuss Anbau, erstreckt sich von den Städten Samsun bis Trabzon in der Türkei.
Weiterhin gute Velo Reise
Otto
Entlang der Seidenstraße – Tulpenstraße
tulipan = Turban
Hallo Andrea,
weiterhin eine schöne Weltreise mit tollen Erlebnissen- Wir haben uns ganz kurz letzten Montag 10.9. am Schwarzen Meer in der Region Kovanli/Persembe getroffen, wo ich zur Besuch bei meinen Eltern war. Hoffe, dass die Sesamkringel geschmeckt haben;-)
LG
Soner aus Bonn
Ja, danke. Der Simit war super – und einmal mehr ein Zeichen der türkischen Gastfreundschaft :-). Wir werden ja so verwöhnt…