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Mit 45 fragt man sich, was man im Leben unbedingt noch tun möchte. Bei mir ist das Velofahren und Reisen.(Bild: Marc Böhler)

«Ich will raus aus der Komfortzone»

Andrea Freiermuth will als erster Mensch die Strecke von Zürich nach Peking mit einem handelsüblichen E-Bike bewältigen – und sich dabei im multimedialen Storytelling üben.

Das Gespräch führte Thomas Wälti für Influence.ch 

Weshalb brechen Sie zu diesem Abenteuer auf?
Andrea Freiermuth: Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich da in etwas hineingeredet. Ich träume schon lange von dieser Reise und habe schon oft davon erzählt. Von Träumen immer nur zu erzählen, geht irgendwie nicht: Irgendwann muss man sie verwirklichen.

Sie sind 45 Jahre alt. Vielleicht auch eine Art Krise im mittleren Lebensalter?
Da könnte durchaus was dran sein. Man überlegt sich in der Mitte des Lebens, was noch kommen soll. Bei mir ist das unter anderem Velofahren. Ich weiss, das klingt verrückt bis unvernünftig. Aber das liegt in der Familie. Schon mein verstorbener Vater quälte sich in jungen Jahren mit einem 3-Gang-Velo über Schweizer Alpenpässe. Später hat er sein Hobby nicht mehr ausgeübt, weil er immer zu viel Arbeit hatte. Er träumte zwar noch von weiteren Touren, aber irgendwann war es dann zu spät.

Ist dieses Reiseprojekt ein Ausbruch aus dem Arbeitsalltag?
Ganz klar. Ich will raus aus der Komfortzone. Ich habe die vergangenen fünf Jahre beim Migros-Magazin gearbeitet und konnte dort viele tolle Geschichten schreiben. Dass ich solange beim selben Arbeitgeber beschäftigt war, ist für mich eigentlich eher ungewöhnlich. Ich mag keine Routine. Die Begegnungen mit den Menschen, die es zu porträtieren oder zu interviewen gilt, sind zwar nie langweilig; aber der Redaktionsalltag, der kann schon etwas einschläfernd wirken.

Der Journalismus steckt in einer veritablen Krise, in der Medienbranche werden seit Jahren Arbeitsplätze abgebaut: Haben Sie keine Angst, dass Sie nie mehr so einen guten Job finden werden?
Die Branche ist im Umbruch. Das stimmt. Aber gerade deswegen ist es wichtig, dass man sich bewegt. Wer sich an eine scheinbar sichere Stelle klammert, läuft Gefahr, bei der nächsten Gelegenheit ausgemustert zu werden. Klar weiss ich, dass es eine Herausforderung sein wird, wieder eine Festanstellung zu finden. Aber es ist ja nicht so, dass ich jetzt einfach ein Jahr Ferien mache. Ich bin quasi als E-Bike-Influencerin und velofahrende Reporterin unterwegs – und bin überzeugt, dass ich mir dabei viele Kompetenzen aneigne, die mich für den Arbeitsmarkt fit halten.

Können Sie das näher erläutern?
Mit meinem Blog habe ich eine Spielwiese für Online-Journalismus. Das ist für mich als klassische Printjournalistin extrem attraktiv. Im Alltag hatte ich bisher leider zu wenig Zeit, die Möglichkeiten auszutesten, die die Digitalisierung dem Journalismus bietet. Es gibt da unglaublich viele Tools, die man einbetten kann – so zum Beispiel Grafiken, Karten oder verschiedene Arten von Bewegtbild.

Wie haben Sie das typisch schweizerische Sicherheitsdenken abgelegt?
(lacht) Ich habe sozialen Druck aufgebaut, indem ich immer wieder von meinem Projekt erzählt habe.

Aber woher nehmen Sie den Mut, ein solches Abenteuer zu wagen?
Grundsätzlich bin ich eigentlich eher ein Angsthase. Ich hatte unglaublich viel Angst, als ich zum ersten Mal als Lehrerin vor einer Klasse stand. Ich habe mir fast in die Hose gemacht, als ich für eine Soloradreise nach Kuba flog. Und ich hatte Schiss, als ich einen Vertrag unterschrieb, der mich verpflichtete, innerhalb von zwei Monaten ein Buch mit 240 Seiten zu schreiben. Aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Ich sage mir jeweils: Ich breche jetzt einfach mal auf, fange mal an – abbrechen oder aufgeben kann ich dann immer noch.

Was hat Sie bei der Routenwahl inspiriert?
Die Schlagzeilen (lacht). «Zürich – Peking» oder «Mit dem E-Bike auf der Seidenstrasse» klingt doch gut, oder? Noch besser gefällt mir mein englischer Slogan «One Road – One Belt – One E-Bike». Das ist nicht nur eine Analogie zur One-Belt-One-Road-Initiative von China zwecks Wiederbelebung der alten Handelswege, sondern auch eine Referenz an den Riemenantrieb meines E-Bikes.

Sie könnten auch mit dem Auto oder Motorrad nach Peking reisen. Warum gerade mit dem Velo?
Das Velo ist ein Sympathieträger und wird mir in vielen Ländern Türen öffnen zu ganz persönlichen Begegnungen mit den Einheimischen. Klar bin ich eine Fremde aus einem anderen Land, aber auf dem Velo ist man näher dran – auch weil man bei Hitze ebenso schwitzt und leidet wie die Bäuerin auf dem Reisfeld und bei Kälte ebenso zittert und friert wie der Hirte am Strassenrand.

Weshalb machen Sie diese Reise mit einem E-Bike und nicht mit einem gewöhnlichen Velo?
Weil das noch niemand gemacht hat. Wer träumt nicht davon, einmal im Leben der Erste oder die Erste zu sein? Zur Auswahl stünden noch ungleich anstrengendere Dinge, wie etwa den Pazifik zu durchschwimmen oder zum Mars zu fliegen. Zudem ist so ein E-Bike ein Mittel gegen viele Übel unserer Zeit: Es hilft gegen Verkehrsverstopfung, Luftverschmutzung, Klimaerwärmung und Bewegungsmangel. Das Potenzial ist riesig. Fast die Hälfte aller Fahrten, die Schweizerinnen und Schweizer mit ihren Autos machen, ist weniger als fünf Kilometer lang. Dazu kommt, dass kalte Motoren und damit kurze Strecken überdurchschnittlich viele Abgase erzeugen. Mit einem Flyer, der mit einer Tretunterstützung bis 25 Kilometer pro Stunde fährt, benötigt man für fünf Kilometer weniger als 15 Minuten – und Stress bei der Parkplatzsuche hat man auch keinen.

Wie hat Ihr näheres Umfeld auf Ihre Pläne reagiert?
Mein Freund hoffte lange, dass es beim Erzählen bleibt. Er wird mich vielleicht mal besuchen, aber sicher nicht begleiten, da er meine Passion fürs Veloreisen nicht teilt. Trotzdem darf ich auf seine Unterstützung zählen: Er ist Profi in Sachen Social Media und hat immer wieder ein paar Tipps auf Lager.

Viele Menschen erzählen nur von ihren Träumen. Fehlt diesen Menschen der Mut, die eigene Komfortzone zu verlassen?
Nein, das würde ich so nicht sagen. Ich fühle mich selber auch nicht mutig. Vielleicht sind die Träume nicht genügend stark, der Wunsch nach Beständigkeit zu gross, oder aber die Leute haben den Dreh noch nicht gefunden, wie sie ihre Angst managen können.

Wie bereiten Sie sich auf Ihr Abenteuer vor?
Im Vorfeld habe ich viel Zeit für Absprachen mit möglichen Partnern benötigt. Auch der Aufbau der Webseite war zeitintensiv. Dann wie üblich bei grösseren Reisen: Impfungen und Versicherungen überprüfen, Ausrüstungen ergänzen und Papierkram erledigen.

Wie viel Geld benötigen Sie für diese Reise?
Ich rechne mit maximal 24000 Franken, also 2000 pro Monat. Im Ausland lebt es sich günstig.

Sie werden allein durch verschiedene Kulturen reisen. Haben Sie Angst?
Wenn alles klappt, werde ich bis Aschgabat, Hauptstadt von Turkmenistan, stets einen Begleiter oder eine Begleiterin haben. Nur in Usbekistan, Tadschikistan und China werde ich voraussichtlich allein reisen. Als Frau hat man immer etwas Angst vor dem bösen Mann, der sich hinter dem nächsten Busch verstecken und über einem herfallen könnte. Aber diese Angst ist keine rationale. Eine viel grössere Gefahr sind die Autos und Lastwagen – und die gibt es auch in Zürich.

Bereiten Sie sich auf Extremsituationen vor – oder vertrauen Sie auf den Selbsterhaltungstrieb?
Ich nehme auf Wunsch meines Freundes einen GPS-Spotter mit SOS-Knopf mit. Wenn ich da draufdrücke, löst das ein Signal in einer US-amerikanischen Notfallzentrale aus, die dann einen lokalen Rettungsdienst an meine Position schickt – und natürlich habe ich stets einen Notvorrat dabei.

Wie viele Kilometer werden Sie pro Tag zurücklegen?
Im Schnitt 50 Kilometer, wobei es auch mal mehr als 100 an einem Tag werden können – und dafür gibt es dann wieder einen Tag Pause.

Wie lautet Ihr Motto: «Der Weg ist das Ziel» oder besser: «Die nächste Steckdose ist das Ziel»?
(lacht) Die Steckdose, ganz klar. Und trotzdem: Der Weg dahin wird garantiert spannend.

Erstveröffentlichung: www.influence.ch 

Dieser Beitrag hat 6 Kommentare

  1. Oliver

    2000 Franken im Monat.
    Ich denke Du willst die Komfortzone verlassen?
    Ich meine das nicht böse.
    Ich finde die Kosten einer Reise sehr interessant. Wie kommst Du auf diesen Betrag?
    Gruß Oliver

  2. Andrea

    Du bringst mich auf eine Idee: Vielleicht sollte ich dann mal einen Blog zu den täglichen Ausgaben machen. Die 2000 sind bloss eine grobe Schätzung. Vielleicht eher auf der sicheren Seite, weil das Leben in der Schweiz so teuer ist, und ich sicher nicht immer im Zelt übernachten werde. Auch weil ich regelmässig eine Steckdose brauche und die Nacht sich zum Laden der Akkus gut anbietet.

    Ich rechne mit 50 Franken pro Tag. Da gibt es dann sicher teuerere und günstigere Tage und Extraausgaben wie für Visa oder Sprachkurs (Januar bis März) und die damit verbundenen Flüge. Ausgenommen von meinem Tagesbudget sind die Fixkosten zu Hause, wie etwa Versicherungen und Krankenkasse. Schon bloss die Krankenkasse mit Unfalldeckung kostet mich rund 288 Franken im Monat – und das obwohl ich eines der günstigsten Modelle habe.

  3. Frank

    Du fährst doch mitten in Den Winter hinein. Wie soll das funktionieren ?

  4. Andrea

    Ich setze mich im Dezember in Duschanbe in den Flieger und fliege zwecks Sprachkurs nach Shanghai. Mein Bike lasse ich in Tadschikistan zurück und setze die Reise im Frühling fort. Dann hoffentlich mit etwas mehr als «ni hao» im Vokabular. Der Flieger ist zwar ein Schönheitsfehler, aber das mit dem Sprachkurs gleich nach Eintritt in China hätte eh nicht geklappt, weil man in den Ostprovinzen eh nicht Mandarin spricht und es da deshalb auch keine Schulen für Ausländer gibt..

  5. Frank

    Du musst über einen 4000er bei der Einfahrt nach China. Danach kommt das Land der Uguren, die sind Seperatisten und die Regierug hat alle paar km Kontrollposten mit Kameras. Du brauchst einen Chinesischen Aufpasser. Dann geht es lange durch die Wüste.

    1. Andrea

      Ja, ich fahre vermutlich über den Irkeshtampass, wenn mich die Chinesen nicht vorher in einen Bus laden. Soweit ich weiss, soll der das ganze Jahr offen sein. Ist mir ein Rätsel bei der Höhe, aber vermutlich fällt nicht so viel Niederschlag in der Gegend. Die Kälte könnte dann auch ein Problem sein, nicht nur für mich, sondern auch für die Akkus.So oder so: Ich habe mich erst rudimentär mit der Gegend befasst, da ich ja erst mal soweit kommen muss – und es vorher noch so viele andere Herausforderungen zu bewältigen gilt.

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